Corine Mauch zum Bundesfeiertag in Zürich

Festansprache der Stadtpräsidentin zum 1. August auf dem Bürkliplatz in Zürich

Liebe Gäste Geschätztes Bundesfeier-Komitee

Liebe Miteidgenossinnen und Miteidgenossen Letzte Woche sass ich mit einer Freundin auf einem Riesenrad, und wir stellten uns gegenseitig Fragen wie:

– «Wer von uns hat mehr Geranien?»

– «Wer von uns kommt mit fremden Menschen rascher ins Gespräch?»

– «Wer von uns findet eher, eine Welt ohne Grenzen wäre eine bessere Welt?»

 

 

Jede von uns hatte eine Karte, auf deren einen Seite «Ich» und der anderen «Du» stand – und bei jeder Frage hielt jede diejenige Kartenseite hoch, die für sie die richtige Antwort war.

– Beide meinten, die andere hätte mehr Geranien. (Ich habe 2, sie hat 3.)

– Beide meinten, die andere käme mit fremden Leuten rascher ins Gespräch. (Wir einigten uns darauf, dass doch ich das sei, auch aufgrund meines Amts.)

– Die Frage nach einer Welt ohne Grenzen fanden wir schwierig zu beantworten. Geht es um Landesgrenzen, geht es um Grenzen unserer Freiheit in der Gemeinschaft…?

 

 

Geschätzte Damen und Herren,

kürzlich beschrieb der scheidende deutsche Botschafter, Otto Lampe, in der NZZ die Schweiz als ein Land, das – angesichts aller Turbulenzen in Europa und der Welt – eine politische Stabilität habe, ein Ausmass an Verantwortung, die die Zivilgesellschaft wahrnehme, an wirtschaftlicher Prosperität und einen sozialen Frieden, die einmalig seien in der Welt.

Es ist so: Unser Land gilt in vieler Hinsicht als Modell. Wir haben hervorragende Bildungsinstitutionen und eine erfolgreiche Berufsbildung. Die Schweiz gilt als verlässlich, unsere Städte sind sicher, und Schweizer Unternehmen sind innovativ. Und auch für unsere direkte Demokratie gilt die Schweiz international zunehmend als Modell. Darauf sind wir zu Recht stolz. Das Riesenrad und das Kartenspiel, das ich am Anfang erwähnt habe, gehören zur Ausstellung «Heimat», die das Stapferhaus Lenzburg im Moment zeigt. Wo fühlen wir uns «dihei», und wie sehen wir uns selbst?

Am 1. August beschäftigen uns diese Fragen, und es ist mir eine grosse Freude, diesen heute mit Ihnen zusammen hier in der Stadthaus-Anlage nachgehen zu dürfen. Ich bedanke mich beim Bundesfeier-Komitee für die ehrenvolle Einladung.

Geschätzte Gäste,

wir lieben unser Land, und wir sind stolz auf unser Land. Aber das, worauf wir heute stolz sind, ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Es sind Errungenschaften, die sich die Schweiz über Jahrhunderte und in zahllosen Auseinandersetzungen erarbeitet hat. Unter dem Dach der Eidgenossenschaft kamen im Lauf ihrer Geschichte Menschen aus verschiedenen Landesteilen, mit unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Konfession zusammen, und sie leben heute gut, respektvoll und erfolgreich miteinander.

Finden wir für unser heutiges Wohlergehen und unser gutes Zusammenleben Anknüpfungspunkte in der Zeit unserer Gründungslegende? Ich meine, es gibt solche.

Die drei Eidgenossen begründeten ihren Bund als «Eidgenossenschaft». Und im Wesen einer Genossenschaft finden wir viele Werte, die wir – und die vielen Bewunderer der Schweiz – der modernen Schweiz zuordnen. Ich möchte drei anführen:

Erstens: Begegnung auf Augenhöhe

In der Schweiz kann es einem passieren, dass man an der Kasse im Coop plötzlich vor oder hinter dem Bundespräsident in der Schlange steht. Und niemand macht daraus ein grosses «Zeugs». Darüber hat sich der deutsche Botschafter im NZZ-Artikel erstaunt und erfreut gezeigt. Er bezeichnete es als «wohltuendes Zeichen eines emanzipierten Bürgertums». Unterschiedlichste Menschen begegnen sich in der (eid-)genössischen Schweiz direkt und gleichberechtigt.

Zweitens: Solidarität und Ausgleich

In einem solidarischen und ausgleichenden System stehen wir zusammen, zum gegenseitigen Nutzen und Schutz. Wir leben in der Schweiz in Sicherheit und Frieden, und unsere Institutionen schauen, dass niemand durch die Maschen fällt. Auch unsere AHV ist eine wichtige solidarische Errungenschaft – und darum wollen wir mit der anstehenden Reform einen Schritt machen, um sie auch in Zukunft zu festigen.

Drittens: Gemeinsam geht es besser als allein…

…und aus dieser Erkenntnis heraus schliessen sich Menschen zu Genossenschaften zusammen, in einer Form von Eigeninitiative und Eigenverantwortung, die auch unser direktdemokratisches System prägt. Wenn Schweizer Bürgerinnen und Bürger abstimmen gehen, übernehmen sie direkt Verantwortung in sachpolitischen Fragen. Nicht unerwähnt lassen will ich hier aber auch, dass Menschen, die in der Schweiz leben – solche mit und solche ohne Schweizer Pass – sich in hohem Masse in Vereinen und Gruppen engagieren und damit einen Beitrag zum gemeinsamen Wohlergehen leisten. Möglicherweise sind die schweizerischen Genossenschaften gerade dank dieser Eigeninitiative so besonders erfolgreich – und ist die Schweiz ein Land der Genossenschaften geworden. Die beiden grössten Detailhändler sind Genossenschaften. Die erfolgreichste Schweizer Bank der letzten zwanzig Jahre ist eine Genossenschaft. Mehrere grosse Versicherer sind Genossenschaften. Die Land- und Alpwirtschaft in der Schweiz ist auch im 21. Jahrhundert ohne Genossenschaften nicht denkbar, und Genossenschaften bieten in Zürich für rund 83 000 Menschen günstige Wohnungen. Das sind mehr Leute als in der Stadt St. Gallen oder in Luzern wohnen.

Genossenschaften, das gehört zur Schweiz. Und unser Genossenschaftswesen und die gemeinschaftliche Nutzung bestimmter Güter gehen tatsächlich auf die Schweiz des Bundesbriefs von 1291 zurück.

 

Liebe Mit-Eidgenossinnen und Mit-Eidgenossen,

gemeinsam Leben in Verschiedenheit – wie wir es in der Schweiz und in Zürich schon in einer langen Tradition tun – setzt ein gesundes Selbstbewusstsein voraus. Die Begegnung mit dem «Anderen» fordert unser Selbstbild heraus. In der Schweiz haben wir eine Tradition des Minderheitenschutzes. Das «Andere» darf anders sein, und Verschiedenheit bereichert die Schweiz. Dass andere eben anders sind, heisst ja nicht, dass ich anders sein muss.

Eine Haltung aber, die das «Andere», das «Fremde», schon als Bedrohung sieht, nur weil es anders ist, bringt ein extrem eingeengtes Verständnis der eigenen Identität zum Ausdruck. Eine solche Haltung und ein solches Verständnis von Identität müssen uns beunruhigen. Denn diese Form der Identität braucht quasi das «Andere», den «Feind», um überhaupt erst zu entstehen. Dieser Haltung fehlt letztlich ein gesundes Selbstbewusstsein, eines, das Kraft aus sich selber schöpft und an sich selbst glaubt. Ein Selbstbewusstsein, das sich nicht nur durch die Begegnung mit dem «Anderen», dem «Fremden», schon bedroht fühlt – und dieses «Andere» bekämpfen muss.

In der Schweiz kennen wir den Umgang mit dem «Anderen». Wir haben vier Landessprachen und leben Vielfalt. Und wir haben eine gesellschaftliche und politische Kultur aufgebaut, die stark genug ist, Gemeinschaft in Verschiedenheit, Toleranz, Respekt und Offenheit hochzuhalten.

Ich will damit in keiner Art negieren, dass es auch bei uns Menschen gibt, die in der heutigen immer schnelllebigeren Zeit, in der neue technologische und wirtschaftliche Entwicklungen zunehmend den Menschen den Takt vorgeben, Ängste plagen: Angst, mit dem raschen Wandel nicht mehr mitzukommen, Angst um die eigene Identität, Angst, Heimat zu verlieren. Der Deutsche Soziologe Harald Welzer definiert in Lenzburg Heimat so: «Heimat ist da, wo es einen Unterschied macht, ob es mich gibt.» Die Schweiz hat in ihrer Geschichte eine aussergewöhnliche und eine erfolgreiche Integrationskraft bewiesen. Alle gehören dazu – auch wenn sie verschieden sind. Zusammen sind wir die Schweiz. Und wir haben gelernt, dass wir mehr erreichen, wenn wir uns zusammentun. In Zürich haben das viele Menschen im solidarischen Umgang mit Flüchtlingen bewiesen.

 

Liebe Miteidgenossen und liebe Miteidgenossinnen,

am 1. August steht die Schweiz im Mittelpunkt. So verschieden wir Menschen sind, so unterschiedlich ist auch unser Blick auf die Schweiz. Eines aber verbindet die Allermeisten in unserem Land: Sie haben dieses Land gern, die Schweiz ist ihnen Heimat. Jeder und jede tut das aber auf seine oder ihre Weise.

Auch daran wollen wir uns am 1. August erinnern. Es ist nicht selbstverständlich. Für Errungenschaften wie Gemeinschaft, Toleranz, Respekt und Offenheit müssen wir uns immer wieder von neuem einsetzen. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie das tun.

Unserem Land und allen Menschen in unserem Land wünsche ich eine gute Zukunft!